Neue Sichtweisen


Beinahe auf den Tag genau vor fünf Monaten sind wir aufgebrochen in unser Abenteuer. Haben unser Zuhause, unsere geliebten Katzen, unsere wertvolle Familie und alle unsere Freunde zurück gelassen. Es wurde uns zu viel und wir wussten nicht mehr weiter. "Aussteigen!" "Raus aus dem Alltag!" schrie unser Körper mit jeder Faser. Im ersten Kapitel meines Blogs hatte ich es so formuliert:

"Der Alltag. Wir haben uns in ihm verfangen, haben keine Luft mehr bekommen, das Rad ist uns viel zu schnell gerollt. Da haben wir beschlossen auf die Bremse zu treten. Fest, hart, bis zum Stillstand. Wir wollen unseren Traum verwirklichen: die Welt zu sehen. Und wir beginnen in Südamerika. Sechs Monate vom Amazonas im Norden Perus bis nach Patagonien im Süden Chiles. Etwa 12.000 km auf dem Landweg. Mit Rucksack und wenig Geld unterwegs. Einfach, reduziert zu leben und eintauchen in Neues, sich vom Herzen führen zu lassen. Eine Reise ohne Drehbuch."


Zu diesem Zeitpunkt war es eine Flucht aus unserem Alltag, denn wir wussten nicht mehr wie wir es handhaben sollten. Uns fiel die Decke auf den Kopf, der Körper hatte keine Kraft mehr und die Dinge machten uns einfach keinen Spaß mehr. Ärzte würden es Burnout nennen. "Mit Rucksack und wenig Geld unterwegs. Einfach, reduziert zu leben und eintauchen in Neues, sich vom Herzen führen zu lassen." Wir haben uns in der Zeit des Reisens von unserer inneren Stimme leiten lassen, uns viele Gedanken gemacht, haben in uns hinein gespürt und uns mit unseren Gefühlen und Wünschen auseinander gesetzt. Was erwarte ich mir vom Leben eigentlich? Was macht mich glücklich? Und wo will ich hin? Diesen Moment des Durchatmen, des Reflektieren und In-sich-gehen haben wir gebraucht. Durch das stetige Suchen nach Antworten findet man im Netz auch viele Gruppen mit Menschen, die  sich in ähnlichen Situationen befinden. "Aussteiger und solche die es noch werden wollen" nennt sich eine davon. Aussteigen - was versteht man unter Aussteigen? Auch ich hab anfangs immer davon gesprochen "aus meinem Leben aussteigen" zu wollen. Aber wohin steigt man? Was kommt danach und warum sucht man nach einem anderen Leben? Als ich laufend die Beiträge der anderen Mitglieder in der Gruppe gelesen hab, identifizierte ich mich anfangs noch mit ihnen. Der mühsame Alltag: Aufstehen-arbeiten-essen-schlafen, uns das Tag für Tag. Wofür? Nur um des lieben Geldes wegen. Wo bleibt da Zeit das Leben zu genießen? So unvorstellbar viele Menschen fühlen scheinbar dasselbe, ich hätte es mir nicht gedacht. Doch je länger wir unterwegs waren, umso mehr wurde mir bewußt, dass es an jedem selbst liegt, das Leben so zu gestalten dass wir es genießen können. Wir selbst treffen die Entscheidungen wie schnell das Rad rollt und wofür wir uns die Zeit nehmen und ob wir das tun was wir genießen. Dazu muss ich nicht "aussteigen" und ohne Strom oder Telefon in der Wildnis leben, auch nicht auswandern nach Mallorca oder sonst wo hin. Wir versuchen immer viel zu sehr Klischees zu erfüllen, uns an die Erwartungshaltungen unserer Kultur anzupassen und unserer Erziehung die uns mitgegeben wurde gerecht zu werden. Aber wir sind Individuen und unabhängig vom Ort an dem wir leben, unabhängig von der Kultur und den Menschen um uns herum haben wir unsere eigene Persönlichkeit und die uns eigene Kraft unser Leben so zu gestalten damit wir selbst glücklich sind. Es ist kein "Aussteigen" nötig, lediglich eine neue Sichtweise auf das eigene Leben. Das wurde mir bewusst. Wir selbst sind die Fahrer und wir selbst steuern das Vehikel, wir bestimmen wohin es geht, wann wir Gas geben und wann wir auf die Bremse steigen. Endlich habe ich verstanden was mir mein Stiefpapa kurz vor unserer Abreise damit sagen wollte: "Stell den Fuß einfach raus aus dem Hamsterrad und brems wenn's dir zu schnell geht!".


Auf unserem Weg von Nord nach Süd haben wir so viele Menschen unterschiedlicher Kulturen kennen gelernt. Sie alle haben mir Schritt für Schritt die Augen geöffnet, meinen eingeschränkten Horizont erweitert und mir ein Stück Zufriedenheit und Zuversicht geschenkt. Uns war es nie wichtig, die Touristen-Highlights auf unserer Route abzuklappern, wir wollten stets nahe dem Menschen sein, sie kennen zu lernen und Teil ihres Lebens zu werden. Und sie haben uns damit so viel mehr geschenkt als sie sich bewusst sind. Alle zusammen, die Menschen die wir am Weg getroffen haben, jene bei denen wir gewohnt haben und all jene, die uns von zuhause aus unterstützt haben, sie alle haben mir bei meiner Genesung geholfen. Diese Reise ist für mich von unschätzbarem Wert! DANKE.






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