Wenn man sich Chile auf der Landkarte ansieht, stellt man schnell fest, dass dieses wunderbare Land in Südamerika aus einem langgezogenen Streifen Festland und vielen bewohnten und unbewohnten Inseln besteht. Die wohl bekannteste und größte unter ihnen ist Chiloé und mit ihr werden stets Wörter wie „mystisch“ und „sagenumwoben“ in Verbindung gebracht. Nach mittlerweile mehr als drei Wochen auf dieser Insel, bekomme auch ich langsam einen Eindruck davon, warum dieses Eiland mit so vielen Mythen und Sagen umsponnen ist. Wer nur für ein paar Tage auf diese Insel reist, wird das Mystische wahrscheinlich eher in Form vom der wunderbaren Naturlandschaft, der vielfältigen Tierwelt oder der Geselligkeit der Inselbewohner wahrnehmen. Vielleicht hört man auch das eine oder andere über die Sagen vom Chiloé. Doch wenn man mehrere Wochen hier verbringt, sich viel in der Gesellschaft der Inselbewohner umgibt und aufmerksam den Geschichten der vor allem älteren Leute lauscht, bekommt man einen viel tieferen Eindruck davon warum diese Insel als mystisch und sagenumwoben beschrieben wird.
Davon möchte ich euch gerne mehr erzählen, weil es mich unglaublich fasziniert und vor allem, weil die Menschen hier mit diesen Mythen leben und immer wieder von Erlebnissen mit Sagenwesen berichten.
Erstmal möchte ich euch drei Sagenwesen kurz vorstellen, welche man immer wieder in alten und auch neuen Geschichten hört: los duendes - die Zwerge oder Kobolde im Deutschen genannt, das Feuerboot Caleuche [sprich: Kaleutsche] und die Hexen.
Ja, es gibt sie auf dieser Insel wirklich: die Kobolde. Sie leben einen heiteren Alltag und machen es den Menschen manchmal ganz schön schwer. Man sagt, sie seien aggressiv und zerstören mutwillig, verführen die Frauen und schwängern Jungfrauen in ihren Träumen. Doch viele hier sind auch der Meinung, sie sind nicht bösartig. Es seien kleine Wesen mit einem kindlichen Charakter, die einem gerne Streiche spielen und dies lustig finden. Ihr Zuhause ist im Wald, sie leben in Bäumen und Sträuchern, doch manchmal verirren sie sich in die Nähe den Menschen. Auf der Insel wird hauptsächlich mit Holz geheizt und so kommt es, dass ein Kobold manchmal mit einer Fuhre Brennholz unfreiwillig in ein Dorf gefahren wird.
Das Feuerboot Caleuche wird als heller Lichtpunkt am Meer wahrgenommen. Es ist ein großes Geisterschiff, das von Hexen, Meeresfabelwesen und den Toten gesteuert wird. Man sagt, dass die Toten auf dem Schiff Feste feiern und man manchmal auch eine wunderschöne Melodie von Weitem hören kann. Hin und wieder gehen sie auch an Land um dort ihre Feste zu feiern. Stirbt ein Mensch auf der Insel, kommt die Caleuche und holt ihn ab.
Und die Hexen - das sind die wohl wahrhaftesten aller Wesen hier auf der Insel. Die Alten erzählen, dass es früher viel mehr Hexen auf der Insel gab, sie aber zusehends weniger werden. Vermutlich suchen sie sich andere Länder um dort zu leben. Man hört von guten Hexen und bösen Hexen, den weiblichen und den männlichen und dem großen Hexenmeister, welcher der Höchstrangige unter ihnen ist. Der Clan hat seinen Unterschlupf in einer großen Höhle im Nordosten der Insel: der „großen Höhle von Quicaví“, dessen Eingang von einem hässlichen Invunche [sprich: Inwuntsche], einem von den Hexen aufgezogenen und von Kindesalter an verstümmelten Menschen, bewacht wird. Ein Hexer kann nicht ein jeder werden. Es bedarf jahrelanger Ausbildung, Prüfungen und Rituale um sich als Hexer bezeichnen zu dürfen. Normalerweise ist dieses Privileg den Söhnen und Töchtern von Hexen vorbehalten. Noch heute glauben die Menschen auf der Insel an die Verwünschungen und bösen Flüche, mit denen einem die Hexen belegen. Nur die guten Hexen können eine Verwünschung die auf einem Menschen lastet erkennen und aufheben. Man sagt, dass sich weiter entwickelte Hexen sogar an andere Orte telepathieren oder in ein Tier verwandeln können.
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Eine Bekannte erzählte mir von ihren Erlebnissen mit den mystischen Wesen auf dieser Insel. Sie ist hier geboren, zählt mittlerweile über 60 Jahre und ist mit den Geschichten und Sagen aufgewachsen.
Über die Kobolde erzählt sie mir, dass in ihrem Vorgarten bis vor einigen Jahren ein schöner Busch stand. Sie hat nie einen Kobold mit eigenen Augen gesehen, doch am Vorplatz vor dem Hausgang immer wieder einen gelblichen, breiigen und bestialisch stinkenden Haufen Kot vorgefunden, der von keinem bekannten Tier hier stammen kann. In dem Moment als sie Ammoniak gegen den Gestank darüber verschüttete, verwandelte es sich schlagartig in einen schwarzen harten Haufen. Eines Tages bat sie ihren Sohn, den zu groß gewordenen Busch im Vorgarten umzuschneiden. Am nächsten Tag schmerzte seine Schulter so stark ohne dass ein Grund dafür vorhanden wäre. Sie glaubt, dass der Kobold mit einer Fuhre Brennholz zu ihr gekommen ist und sich sein neues Zuhause im Busch gesucht hat. Als sie den umschnitten war er verärgert darüber und hat dem Übeltäter Schmerzen zugefügt.
Das Feuerboot Caleuche ist ihr bereits zweimal im Leben begegnet. Beim ersten Mal war sie am Strand mit ihrer Mutter um die Fische aus dem Netz zu holen, als sie einen leuchtenden Punkt weit draußen am Meer sahen. Sie glaubten, es sei das Versorgungsboot, das zweimal pro Woche zur Insel kam, denn damals lebten sie auf einer der kleineren Inseln rund um Chiloé. Als das Boot schlagartig ein Stück neben ihnen am Strand anlandete, erschraken sie und liefen hinauf zum Haus. Von dort aus beobachteten sie wie ein Haus in der Nähe hell erleuchtet wurde. Sie glauben, dass die Mannschaft der Caleuche an Land ging um dort ein Fest zu feiern.
Bei der zweiten Begegnung war sie bereits erwachsen und lebte auf Chiloé. Eine Nachbarin starb in hohem Alter und deren Angehörige und Freunde hielten wie es Tradition ist am offenen Sarg Totenwache. Als sie ein helles Licht erblicken, verlassen sie alle das Haus um der Caleuche Einlass zu gewähren, damit sie die Tote mit sich nehmen kann. Als die Angehörigen wieder das Haus betreten, war der Sarg geschlossen und die Sargträger berichten, dass der Sarg ungewöhnlich schwer war für eine zierliche alte Frau. Vermutlich hinterließ die Mannschaft der Caleuche einige Steine als sie den Körper mit sich nahmen. Der Sarg wurde nie geöffnet, denn die Menschen hier glauben an die Sagen.
Über Hexen hört man hier die meisten Geschichten und für die Bewohner von Chiloé ist dies keine Glaubensfrage, sondern Realität. Vielleicht gibt es heutzutage keinen Hexenclan mehr wie es ihn bis ins 19. Jahrhundert gab, doch gibt es nach wie vor viele Menschen, die als Hexer ausgebildet werden. Die guten Hexen bezeichnet man heute als Heiler und Alternativmediziner, haben sie neben der spirituellen auch immer eine Ausbildung in Kräuterheilkunde und Akupressur oder ähnlichem. Jene Hexen, die mit schwarzer Magie arbeiten, sind heutzutage schwerer zu finden. Sie leben wie jeder andere Mensch und gehen ihrer Arbeit nach, doch haben sie das Wissen und die Fähigkeit jemanden zu verwünschen. Meist erfolgt dies heutzutage „auf Bestellung“. Es kennt stets irgendjemand jemand, der jemand kennt der einen kennt der der schwarzen Magie mächtig ist.
Eine ältere Dame erzählt mir, dass sie vor einigen Jahren an einer Thrombose im Gehirn litt. Die Ärzte taten ihr Bestes aber nichts schlug an. Bis sie durch Zufall an einen Arzt kam, der auch als Heiler praktiziert und entdeckte, dass ihre Krankheit durch eine Verwünschung aus dem Umkreis ihres verstorbenen Ehemanns entstand. Er hat ihr geraten, den Wasserdampf aus geschmolzener Schokolade zu inhalieren und Ruda, eine Pflanze gegen schwarze Magie im Garten zu pflanzen. Sie erzählt, in dem Moment als sie eine männliche Ruda-Pflanze neben die weibliche pflanzte, ertönte ein lauter Knall und einige Sekunden darauf wurden die Tiere im Hof nervös und blökten, quietschten und gackerten aufgeregt. Wahrscheinlich war die Kraft die von der männlichen und weiblichen Ruda-Pflanze gemeinsam ausging so stark, dass die Hexe nicht hindurch konnte, anprallte und am Haus und dem Hof mit den Tieren vorbeiflog. Tage später war von der Thrombose im Gehirn nichts mehr zu bemerken. Sie war geheilt.
Ein anderer Bewohner der Insel erzählt, dass er und seine Arbeitskollegen einen Hexer unter sich vermuteten, der sich von Zeit zu Zeit in einen Hund verwandelte. Eines nachts lauerten sie dem Hund auf und schnitten ihm ein kleines Stück von seinem Ohr ab und am nächsten Tag kam auch jener Arbeitskollege mit einem verbundenen Ohr an. Zufall oder doch wahr?
Noch eine Geschichte der Dame, die als Kind auf einer der kleineren Inseln lebte: Am Strand sahen sie und ihre Mutter oft Seelöwen schwimmen. Eines Tages beobachteten sie drei von ihnen, als sie spielerisch am Strand entlang schwammen. Ihre Mutter erklärte ihr, dass dies vielleicht Hexer sind und sich gerade ihren Fisch für das Mittagessen fangen. Einige Minuten später verschwinden die Seelöwen und am Strand vor ihnen tauchen plötzlich drei Männer mit Fischen im Arm auf. Zufall?
An Kobolde, das Feuerboot Caleuche oder sich in Tiere verwandelnde Hexen mag man glauben oder auch nicht. Der Großteil der Inselbewohner jedenfalls glaubt an die Sagen und berichtet immer wieder von ihren Erlebnissen mit den fabelhaften Wesen. Und genau das macht es aus, dass man diese Insel als mystisch und sagenumwoben empfindet. Die Menschen glauben daran und hauchen damit den Sagen Leben ein. In vielen Restaurants findet man Bilder und Zeichnungen von den Sagenwesen und auch bei vielen Anlässen wie traditionellen Festen werden Holzstatuen von den Fabelwesen aufgestellt und die Geschichten weitergegeben. All dies zusammen und mit dem Glauben an die Existenz dessen was unser Auge nicht sehen kann, formt dieses wunderbare Bild von der mystischen Insel Chiloé. Wenn man möchte, kann man sich davon umweben lassen, eintauchen in die Geschichten der Bewohner und den Glauben an das Sagenhafte. Für viele von uns, die in der heutigen, konsumgeprägten Zeit aufwachsen, ist dies bloß ein Märchen, denn wir haben verlernt zu „spüren“, das Unsichtbare zu fühlen und an nicht sichtbare Energien zu glauben. Für die meisten Inselbewohner hier ist dies allerdings die Realität. Sie sind damit groß geworden, kennen die Geschichten von Kindheit an und wurden gelehrt das für das menschliche Auge Unsichtbare zu spüren. Für mich ist dies eine wunderschöne Erfahrung: die faszinierenden Geschichten zu hören, mit den Emotionen des Erzählers mitzufühlen und einzutauchen in eine Welt des Glaubens und des Mystischen....
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